Wie darf man das nennen?
Südafrika 1985. Zwei schwarze Südafrikaner werden Zeugen eines Autounfalls, der verletzte Mann ist weiß. Sie rufen einen Krankenwagen für Weiße und stehen dem Verletzten so gut es geht bei. Doch der Krankenwagen kommt nicht. Sie rufen noch einmal an und betonen, dass es sich beim Verletzten um einen Weißen handelt. Nicht recht überzeugt fragt die Stimme am Ende der Notfallhotline „Ihr seid doch Schwarze, seid ihr sicher, dass der Mann weiß ist?“
Wie würde man das nennen? Unterlassene Hilfeleistung auf der Basis rassistischer Vorurteile? Apartheid?
Vorgestern fuhr mein Verlobter Ghassan mit seinen Arbeitskollegen durch die Westbank zu einem kleinen Dorf, in dem er Gruppenleiter- und Theaterkurse in einem Frauenzentrum anbietet. Viele der größeren Straßen in der Westbank sind nur für Israelis befahrbar, und für Palästinenser mit Sondergenehmigung (Bus und Taxi, Transportunternehmen, Ärzte). Dann gibt es aber auch Straßen, die nicht von Israelis befahren werden sollen, dies ist nach israelischem Gesetz unter Strafe gestellt. So soll verhindert werden, dass jüdische Israelis in die wenigen Gebiete der Westbank fahren, die unter palästinensischer Sicherheitskontrolle stehen. Ghassans Kollege kommt aus Ostjerusalem, und darf deswegen das Auto der Organisation mit israelischen Kennzeichen sowohl auf der einen als auch auf der anderen Straße fahren.
Sie haben gerade die Siedlung Ariel passiert, mit 30.000 Einwohnern eine der größten israelischen Städte in der Westbank, und fahren auf die Schilder zu, die Israelis darauf aufmerksam machen, dass sie hier nicht weiterfahren dürfen. Palästinensergebiet A, keine Durchfahrt für Israelis! Da werden sie Zeuge, wie der Fahrer des Wagens vor ihnen plötzlich die Kontrolle verliert und mit einem LKW zusammenstößt. Sie steigen aus, um dem Ehepaar im Unfallfahrzeug Erste Hilfe zu leisten. Die ältere Frau hat bis auf einen Schock keine offensichtlichen Verletzungen davon getragen, ebenso wenig der LKW-Fahrer. Der Ehemann im Kleinwagen jedoch blutet stark und ist kaum bei Bewusstsein. Die Insassen sind Israelis. Ghassan bittet daher seinen Kollegen, eine israelische Ambulanz zu rufen, die von der nahegelegenen Siedlung innerhalb weniger Minuten am Unfallort sein kann.
Ghassan spricht mit dem Fahrer auf Hebräisch, um ihn bei Bewusstsein zu halten und ihn zu beruhigen. Er hat sein Hebräisch in einem Kurs an der Uni in Nablus gelernt. Das ist schon eine ganze Weile her, aber es reicht, um mit dem Mann Kontakt aufzunehmen.
Mittlerweile sind 10 Minuten vergangen und es ist noch kein Krankenwagen in Sicht. Weitere Palästinenser kommen zur Unfallstelle. Ghassan fragt seinen Kollegen, ob dieser beim Anruf erwähnt hat, dass der Verletzte Israeli, Jude, ist. Es gibt für Israelis keinen Grund, auf dieser Straße zu fahren. Ghassan befürchtet, dass der israelische Notruf denkt, beim Verletzten handelt es sich um einen Palästinenser, und deswegen keinen Krankenwagen schickt. Was für mich total verrückt scheint, ist für ihn ein selbstverständlicher Gedankengang.
Sie entscheiden sich daher auf Nummer sicher zu gehen, und auch eine palästinensische Ambulanz zu rufen, die zwar einen wesentlich weiteren Anfahrtsweg hat, aber besser als gar keine Hilfe wäre. Ghassans Kollege ruft danach noch einmal beim israelischen Notruf an und macht der Person am anderen Ende klar, dass es sich beim Verletzten um einen jüdischen Israeli handelt. Daraufhin kommt kurze Zeit später ein Militärjeep zur Unfallstelle. Ein Soldat steigt aus, sieht die vielen Palästinenser um das Auto des jüdischen Ehepaars stehen, versucht zu erfassen was passiert ist, und will dann dem Fahrer Wasser geben. Ghassan erklärt ihm, dass es aufgrund möglicher innerer Verletzungen gefährlich sein kann, wenn der Mann trinkt. Der Soldat wird zornig und will sich mit Ghassan anlegen, und nur schwerlich kann dieser ihm erklären, dass es wichtiger wäre, endlich einen Krankenwagen zu bekommen. Eine Polizeistreife kommt, der Polizist fragt „Wer hat den Unfall verursacht?“ und will dann den Ausweis des palästinensischen LKW-Fahrers konfiszieren. Schließlich ruft er beim Notruf an, und bittet „Dringend, schnell, schnell“ um einen Krankenwagen. Nach einigen Minuten kommt die Feuerwehr. Dann kommen zur gleichen Zeit der israelische und der palästinensische Krankenwagen. Die palästinensische Ambulanz hatte sich direkt nach dem Anruf auf den Weg gemacht, ohne dass jemand wissen wollte, wer das Unfallopfer ist. Die israelische Ambulanz fuhr erst los, als der israelische Polizist bestätigen konnte, dass es sich beim Verletzten wirklich um einen Israeli handelt...
Wie darf man das nennen? Wir stellen uns oft die Frage, wie wir in Deutschland auf von Israel verübte Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen können. Es ist einfach, über palästinensische Raketen aus dem Gazastreifen zu sprechen, niemand wird uns vorhalten, dass wir allgemein gegen alle Araber oder alle Moslems sind. Wie können wir aber erklären, was Besatzung ist und welch einen Einfluss dieses System auf jeden Aspekt im Alltag der Palästinenser hat, wie Menschen ihrer Grundrechte beraubt werden. Und das, ohne als Antisemit bezeichnet zu werden, gegen alle Israelis, gegen alle Juden. Es ist ein schwieriges Unterfangen, und vielleicht sind wir noch nicht bereit für diese Art von Kritik. Das Problem ist nur, dass unsere falsche Vorsicht und bedingungslose Unterstützung nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Israelis kontraproduktiv ist und die Gräben im Nahen Osten nur noch vertieft.
... Die Ambulanz kam also schließlich, aber ohne Arzt, nur der Fahrer = Sanitäter war zur Stelle. Ghassan und seine Kollegen halfen dem Sanitäter, den Fahrer aus dem Auto heraus auf die Trage und in den Krankenwagen zu legen. Zu diesem Zeitpunkt kamen 5 weitere Armeejeeps und mehrere bewaffnete Siedler zur Unfallstelle. Ghassan hatte den Eindruck es sollte sichergestellt werden, dass die Palästinenser nicht über die Israelis herfallen. Sie stiegen aus und schrieen die umstehenden Palästinenser an, sie sollen verschwinden und es gäbe nichts zu sehen. Eine Frau schrie zurück „Wir helfen dem Mann, wir wollen ihn nicht umbringen!“ Der Krankenwagen war mittlerweile abgefahren und Ghassan und seine Kollegen machten sich auch wieder auf den Weg.
Nach getaner Arbeit gingen sie im kleinen palästinensischen Dorf zum Mittagessen. Während sie so saßen und mit dem Wirt über Gott und die Welt philosophierten, gesellte sich ein israelischer Gast zu ihnen und beteiligte sich an ihrem Gespräch. In einem Gebiet, das für den Israeli Sperrzone ist. Warum ist er trotzdem da? Gutes Essen und nette Leute. Moslems, Christen, Juden, an einem Tisch mitten in der schmerzlich zerteilten Westbank, einfach so, gutes Essen, nette Leute.
Wie nenne ich das? Hoffnungsschimmer!
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